Leseprobe: VORWORT
Es war einmal… Jeder kennt sie, jene versonnenen Märchenaugenblicke, in denen die Seele in Selbstvergessenheit schwebt. Irgendwann einmal in einem solchen Augenblick war die Frage in mir, welches wohl die intensivsten Ereignisse in meinem Leben gewesen sein mochten.
Zu den erhebendsten Momenten in meinem Leben zählt der erste Blick in das noch verschrumpelte Gesichtlein meines ältesten Sohnes kurz nach seiner Geburt. Es war, als würde mich die Freude eines völlig unerwarteten Wiedersehens zweier befreundeter Seelen in die Tiefen eines Ozeans aus Zeit hinwegschwemmen.
Es zählt dazu das „Vater unser“ bei der Bestattung meiner Mutter und die ungeheure Erleichterung in mir, als man ihren Sarg hinabgelassen hatte. Das „Vater unser“ wurde von ihren Freundinnen am Altar der heimatlichen Kirche gesungen und getanzt, und ich bin in einem Strom von Trauer ertrunken. Das Ab und Auf, die Erleichterung beim endgültigen Abschied wenig später ist mir bis heute ungeheuerlich und unerklärlich geblieben. Aber ich schäme mich ihrer nicht.
Und es zählt dazu das Duett aus dem Schlußlied von Monteverdis Oper „Die Hochzeit von Pompeji“, das im alten Rathaussaal zur Trauung meiner erstgeborenen Nichte gesungen wurde.
Immer hätte ich sterben können vor Liebe.
Oder: Wie kann mir eine wildfremde Frau inmitten einer Menschenmenge auf dem Marktplatz entgegentreten, mich frank und frei anschauen: „Jesus is in your heart, and he likes you.“ Dies just, als ich nicht mehr ein noch aus wußte. Dann geht sie weiter. Sie läßt mich verduzt stehen. Ich werde sie nie wieder sehen, diese Amerikanerin. Sie hatte mir nur diesen einen Satz zu sagen in unserem Leben. Das war alles. Die Erschütterung holte mich erst nach einer Weile ein.
Oder: Meine erste Fahrt mit der neu gekauften gebrauchten Vespa führte mich zu jenem Haus in A.. Dieser Wohnort war für mich verbunden mit Einsamkeit und Desaster. Die Vespa hatte bereits klaglos zwölftausend Kilometer auf dem Buckel. Genau hier an diesem Platz brannte ihr die Sicherung durch. Sie gab keinen Mucks mehr von sich. Ausgerechnet hier. Ein Zufällchen, nicht wahr? Ja doch. Ein Zufall. – Was fällt mir zu? Warum fällt es mir zu? Wer schickt es? Oder bin vielmehr ich es selbst, der es anzieht? Hat Materie Geist? Und schließlich: Bin ich naiv?
Ich beobachte. Es sind oft erhebende Momente, aber auch die geringsten Ereignisse können erschütternd sein. Sie sind von enormer Kraftwirkung, wenn ich nahe bei mir bin; wach, offen und wahr. Und immer entzieht sich mein Empfinden meinem Verständnis bei weitem. Gerade dies war für mich stets die schwerste Prüfung gewesen. Denn ich war als Naturwissenschaftler gewohnt, meinen Verstand zum Fundament meiner Existenz zu setzen. Ich denke, also bin ich. - Falsch! Dieses Fundament hat nicht nur Risse bekommen. Ich habe es ersetzt durch spirituelle Gewißheiten. Ich spüre, also lebe ich. Und: Ich bin!
Fast ist es wie im Märchen, wenn ich dieses Buch mit den Worten beginne: Es war einmal. Nur erzählen Märchen wundersame, tiefgründige und vor allem grundsätzlich wiederholbare Geschichten. Damit können sie als gleichnishafte Lehrstücke menschlicher Möglichkeiten angesehen werden. Auch die in diesem Büchlein vorliegenden Geschichten sind Einzelgeschichten. Es gibt keinen erkennbaren verbindenden Faden zwischen ihnen. Der Leser fällt möglicherweise unvermittelt in sie hinein und ist anfänglich befremdet. Es sind Kurzgeschichten, keinesfalls Lehrstücke. Sie kreisen um Geschehnisse, die nicht unbedingt im Bereich der bewußten Wahrnehmung oder eines willkürlich steuerbaren Verhaltens liegen.
Gerade im Gegensatz hierzu teilen sie verwunderliche Ungereimtheiten mit, die dem rationalen Denken Fragezeichen setzen. Die geschilderten Begebenheiten ereigneten sich zufällig und ohne erkennbaren ursächlichen Zusammenhang. Sie teilten sich mir als helle Ahnungen mit, als Träume, als unwahrscheinliche „Zusammenfälle“ oder auch als intensive, kaum noch beherrschbare Emotionen.
Die einzelnen Kurzgeschichten schildern also immer „irgendwie zufällige“ Ereignisse. Insofern handelt es sich gewissermaßen um nicht mehr als um eine reine Phänomenensammlung. Aber es war die überzufällige Häufung ähnlicher Begebenheiten, die mich hat aufmerken und einen inneren Zusammenhang vermuten lassen.
Nur wo war diese Systematik anzusiedeln? Es gibt keine schlüssige Erklärung für das Erlebte, für meine Ratio nicht und auch vor dem Hintergrund meiner naturwissenschaftlichen Vorbildung nicht.
Oftmals habe ich Wegesgabelungen sehr bewußt wahrgenommen. Manchmal wurde bereits im Augenblick eines Ereignisses offenbar, daß eine Möglichkeit unumkehrbar zu einer Realität gerann und daß sich aus solchen Keimen schwerwiegende Konsequenzen für mein späteres Leben entwickeln würden. Ist aber auf diese Weise nicht jede Stunde die Geburtsstunde eines neuen Universums? Hat nicht jedes jetzt existierende Universum eben noch unsichtbar im Uterus eines verborgenen Wahrscheinlichkeitskosmos geschlummert ... dem wir aus freien Stücken zur Wirklichkeit verhelfen?
Was ist das, die Wirklichkeit? Ist es der schlichte Alltag, in dem ich mich in immer gleichen Tätigkeiten verwirke? Oder ist es die kreative Verwobenheit aller Wesenheiten mit Allem-was-ist? Ist es das langweilige Einherplätschern des Lebens oder ist es die intensive Lange-Weile ewigen Werdens?
Offenbar ist die Wirklichkeit dies alles. Die Ödnis der Unausgefülltheit des Suchenden gehört dazu. Sie öffnet zuweilen Abgründe von Angst vor der endgültigen Leere am Ende des Lebens. Aber auch die beseelten Momente der Erhobenheit einzigartiger Ereignisse dürfen nicht fehlen. Diese können das Leben über das Körperliche hinaus zur spirituellen Gewißheit beflügeln: Es gibt keinen Tod. Wir sind nicht allein. Wir sind eingebettet und gut geführt in diesem Leben, welches wir allzuleicht den profanen Bedürfnissen unseres Körpers unterordnen.
Die unaufhörliche Erweiterung des Bewußtseins im Sinnen und im Spüren hilft die Spanne zu überbrücken. Das Sinnen richtet den Fokus der Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der eindringlichen, aber auch unscheinbarer Erlebnisse. Es führt zu einem Gespür für die Ordnung hinter all dem. Es ist, als ob das Leben selbst eine Kutschfahrt ins Abenteuer wäre. Hinaus! Hinaus in die offenen Weiten des Entdeckbaren und tiefer und tiefer ins Innere dessen, was die Welt zusammenhält! Dort die Schätze reicher Erfahrung sammeln, mit ihnen beladen heimfinden und schließlich zur Ruhe kommen. Dann aber kann das Spiel erneut beginnen. Der Kreis des Lebens kann erneut mit Sinn angefüllt werden.
So schwächt sich auch der gebieterisch ethische Anspruch nach Tugendhaftigkeit und Moral von allein in eine Gelassenheit, die mit einer Prise von Sehnsucht nach dem Glauben-Können, dem Hoffen-Dürfen und dem Lieben-Wollen gewürzt ist.
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