Leseprobe: ONKEL KANN MEINE GEDANKEN LESEN
Als ich neun und mein Cousin zehn war, bat uns unser Onkel, der Bruder unserer Mütter, zu einem kleinen Experiment. Das Großmutterhaus schien leer, und es war still. Eine ehemalige Türöffnung durch die dicke Wand zum Nachbarhaus war bereits zugemauert, und die so entstandene Nische diente jetzt als Wandschrank. In der Wohnstube stand jenes alte Sofa, dessen speckigen Stoff man wohl mit einer Decke und einigen Polsterkissen verbarg. Davor stand ein Tisch, rundherum einfache Stühle, und es waren noch der Herd und ein Geschirrschrank im Zimmer.
Der Fernseher war gewiss noch nicht da. Es war die Zeit, in der sich die große Familie abends zuweilen noch zusammenfand, um zu essen und zu schwätzen und Rommé zu spielen.
Es war vormittags, und wir waren zu dritt. Onkel nahm am Kopfende des Tisches Platz, und wir Jungen saßen zu seiner Linken mit ausgestreckten Beinen in der Falte der Couch. Er hatte einen Stapel Karten vor sich und bat uns, er wolle uns einzelne Karten zeigen, ohne sie selbst anzusehen, und wir beide sollten an die Farbe der Karte denken. Er könne unsere Gedanken lesen und würde die Farbe dann sagen.
Wir mischten den Stapel. Onkel legte sie verdeckt vor sich auf den Tisch. Dann hielt er sich mit einer Hand die Augen zu und hob die oberste Karte seitlich ab, sodass nur wir sie sehen konnten.
Fleißig dachte ich an die Farbe. Auch mein Cousin schien damit beschäftigt zu sein. Onkel legte die Karte unter den Stapel und verdeckte nun sein ganzes Gesicht mit beiden Händen, während wir emsig dachten und dachten… Dann sagte er die Farbe. Sie stimmte.
Noch einmal! Eine Karte hochgehoben. Ob er sie auch nicht sehen kann? Er legt sie weg. Wir denken die Farbe. Er konzentriert sich in der Stille des Raumes und sagt uns die Farbe. – Richtig!
Wir sind verblüfft. „Du hast irgendeinen Trick!“ vermuten wir. Er beharrt darauf: „Nein, kein Trick, ich lese eure Gedanken.“ – „Das geht gar nicht!“ sträuben wir uns. „Mach wieder!“
Das Spiel wiederholt sich noch einige Male, jedesmal sagt er uns die Farbe korrekt an.
Mir wird’s zu bunt. Ich warte gespannt auf die nächste Karte, ‚Ich lege dich rein.’ denke ich. Er hebt hoch, ich denke die falsche Farbe, „rot“ statt „schwarz“, ganz intensiv. Es dauert. Dann nimmt Onkel die Hand von den Augen, schaut uns an und sagt: „Einer von euch denkt jetzt falsch!“
Fortan machte ich mich nach Möglichkeit aus dem Staub, wenn Onkel auftauchte, denn ich konnte ja nicht nichts denken…
Ganz ähnlich ist die Geschichte vom Prachtspierstrauch. Welch ein Wort! Ein Prachtspierstrauch! Da genügt ein warmer Samstag im Frühling, stumme Muße mit meiner kleinen fünfjährigen Nichte Helena, und es summen nicht nur die neugeschlüpften Insekten um uns, während wir in der Stille ihr Kinderrädchen reparieren. Es kann auch geschehen, dass dieses Wort in meinem Kopf herumschwirrt, mich immer tiefer in die Hantierungen am Fahrrad versenkt, Prachtspierstrauch…, Prachtspierstrauch…, bis nur noch das plosive „P“ und vor allem die vielen zischenden und fauchenden „sch“ und „ch“ übrig bleiben. Plötzlich schaut mich Helena an und fragt: „Was ist denn das: ‚pchtschpchschtch’?“
Nun. Ich wusste es. Es war unsere gemeinsame innige Versenkung in die Stille dieses Wortklangs. Ich brauche nicht zu versichern, dass ich das Wort vorher nicht ausgesprochen hatte und dass Helena weit davon entfernt war zu wissen, was ein Prachtspierstrauch ist.
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